Zum Inhalt springen

eRezept – Zu Chancen, Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Apotheker

Die Digitalisierung nimmt auch im Gesundheitssektor Fahrt auf: Nach langer Vorbereitung und einigen Hürden sollen seit dem 1. September Apotheken bundesweit E-Rezepte einlösen und abrechnen. Ein hochinteressantes Thema mit viel Potenzial, aber auch mit einigen Spannungsfeldern, da sich durch das eRezept einiges verändern wird. Neue Player treten auf, Marktanteile verschieben sich, Aufgaben und Arbeitsabläufe verändern sich – und das sind nur einige möglichen „Nebenwirkungen“ des eRezepts. Unser Gesellschafter Lothar Jenne hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt und den Dialog mit Dr. Kai Christiansen (Präsident der Apothekerkammer Schleswig-Holstein) gesucht.

Lothar Jenne: Die aktuelle Planung sah vor, dass die Ärzte in Schleswig-Holstein eRezepte ab September ausstellen sollen und ab Dezember ausstellen müssen.

Die Vorbereitungen sind mit einem hohen Engagement aller Beteiligten gelaufen. Wir sind – zusammen mit den Kollegen von Westfalen-Lippe – getragen von einem Pioniergeist, weil wir Pioniere sind und sein wollen. Unter der Moderation der Gematik haben sich wöchentlich Vertreter der Ärzte- und Apothekerschaft, der Softwarehäuser sowie des Deutschen Apothekerverbandes DAV getroffen, so dass die Vorbereitungen in einem guten Miteinander gelaufen sind.

Lothar Jenne: Mit welchen Gefühlen haben Sie der Aufnahme des Real-Betriebs in Schleswig-Holstein ab 01.09.2022 entgegengesehen?

Dr. Kai Christiansen: Wir haben die große Abhängigkeit von den Mitwirkenden, den technischen Ansätzen im Allgemeinen und dem divergierenden Stand der Vorbereitungen der beteiligten Softwarehäuser, egal ob sie für die Ärzte oder die Apotheker im Einsatz sind, gespürt. Daher sehen wir die Aufgabe auch mit großem Respekt.

Lothar Jenne: Wie hat sich die Apothekerschaft von SH vorbereitet gefühlt?

Dr. Kai Christiansen: Die Apothekerschaft hat sich intensiv vorbereitet und ist gut aufgestellt. Sorgen bereitet uns, dass die individuellen Software-Lösungen nicht immer praxisgerecht sind und auch der Fertigstellungsgrad stärker differiert, als es der Sache zuträglich ist.

Lothar Jenne: Wie schätzen Sie den Vorbereitungsstand der Ärzteschaft ein?

Dr. Kai Christiansen: Da ein Teil der Arztpraxen bereits sehr früh mit den Konnektoren ausgestattet wurden, müssen diese jetzt vor dem Start des eRezeptes gegen neue Geräte ausgetauscht werden. Solange die Arztpraxen keine eRezepte ausstellen, können wir in der Apotheke auch keine eRezepte bearbeiten. Das eRezept führt in den Arztpraxen und den Apotheken zu großen Veränderungen in den Arbeitsabläufen, deshalb ist es verständlich, wenn der ein oder andere große Bedenken gegen das eRezept hat. Vielleicht lässt sich das eRezept mit der Einnahme eines Arzneimittels vergleichen, am Anfang überwiegen häufig die Nebenwirkungen und es dauert bis die heilende Wirkung einsetzt, so wird es auch beim eRezept sein. Überrascht hat uns allerdings der Ausstieg der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) aus dem hiesigen eRezept-Rollout. Hier müssen wir allerdings differenzieren. Die von der KVSH befragte ULD [1] hat den Rollout nicht verboten, sondern die Praxis der Rezept-Übermittlung vom Arzt via E-Mail an Apotheken wegen der damit verbundenen Datenschutz-Problematik negativ kommentiert. Das ist einerseits selbsterklärend, andererseits aber wegen der Gefährdung des Patientenrechts auf freie Apothekenwahl nur zu begrüßen.

Lothar Jenne: Was überwiegt: Sorge vor einer Stärkung des Versandhandels oder die Erwartung eines Entwicklungsschubs hin zu einer engeren Verzahnung der Akteure des Gesundheitswesens vor dem Hintergrund, dass das eRezept ja nicht alleine stehen soll, sondern letztlich von der eAU und ePA, dem eMP und NFD[2] begleitet werden wird?

Dr. Kai Christiansen: Ohne Frage muss man sich Sorgen machen, dass der Versandhandel eine Stärkung erfährt. Aber das darf man nicht alleinstehen lassen. Nicht nur Versandhändler profitieren davon, dass der Standort des Arztes an Wichtigkeit verliert, weil der Patient die Distanz zwischen Arzt und Apotheke mit einem Wisch auf dem Smartphone überwinden kann. Das Gleiche gilt für die Vor-Ort-Apotheke. Nehmen wir den Fakt, dass sich Ärzte auf dem Land aus den Räumen zurückziehen, dann kann die Land-Apotheke künftig die Distanzen wie ein Versandhändler „mit einem Wisch“ überbrücken. Das konnte sie bisher nicht. Es kommt also darauf an, was wir daraus machen!

Lothar Jenne: Das eRezept ist aktuell abrufbar mit Hilfe des ausgedruckten QR-Codes oder der Gematik-App. Der Austausch eines Papierrezepts gegen einen QR-Code stellt ja nun wahrlich noch keine durchgehende Digitalisierung dar. Zu erwarten ist das Angebot von Apps Dritter (z.B. von der Barmer EK) und auch der künftige Einsatz der eGK als Datenträger. Wie schätzen Sie die künftige Entwicklung ein?

Dr. Kai Christiansen: Ohne Frage wird die nähere Entwicklung vom ausgedruckten QR-Code zu 90 % dominiert werden. Er ist ohne nachhaltige Erklärung einsetzbar und bietet mehr Informationen für den Patienten als die Gematik-App, die unter den hohen technisch-organisatorischen Vorbedingungen leidet. Die Akzeptanz der „freien“ App wird davon abhängen, welche Apotheken im Zuweisungsprozess angeboten werden: die Nächstliegende, die Stamm-Apotheke oder welcher Mix? Und schließlich der Einsatz der eGK [2] : technisch eine naheliegende Lösung; wollen wir hoffen, dass die Entwicklung zeitnah erfolgt und auch sonst den Erwartungen entspricht.

Lothar Jenne: Und welche Rolle werden Portale wie „IhreApotheken.de“ oder „gesund.de“ spielen?

Dr. Kai Christiansen: Mit dem Aufkommen dieser Portalbetreiber versucht ein Dritter sich zwischen Patienten und Apotheke einzunisten. Sie merken schon an meiner Wortwahl, dass ich mit diesen Portalen wie auch im Übrigen mit Patienten-Apps meine Probleme habe, denn letztlich werden die Apotheken beides finanzieren müssen. Zusammen mit der ABDA gehe ich davon aus, dass Portale durch die Einfügung eines § 361a in das SGB V keine Rolle beim Handling der eRezepte erlangen werden. Andererseits werden apotheken-individuelle Apps und Webseiten benötigt, damit der Patient seine eRezepte auf einfachstem Weg an die Apotheke seiner Wahl übertragen kann. Deren Rolle ist also nicht zu unterschätzen.

Lothar Jenne: Auch andere Lösungen sind denkbar. Sehen Sie einen Königsweg?

Dr. Kai Christiansen: Wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre das der Versorgungsvertrag, den ich mit Patienten schließen könnte, um ihnen davon ausgehend die Rundumbetreuung zu bieten: von „A“ wie Arzneimittelabgabe über „B“ wie umfassende Beratung bis hin zu „C“ wie Chat zur jederzeitigen und auch spontanen Betreuung.

Lothar Jenne: Vor einigen Monaten wurde die Frage öffentlich diskutiert, wer eigentlich für den Wert des Rezepts auf dem Weg von der Apotheke bis zum Rechenzentrum haftet, weil der Zeitpunkt und der Nachweis der Übergabe nicht definiert werden konnten. Sehen Sie eine befriedigende Lösung?

Dr. Kai Christiansen: Die Frage steht unverändert im Raum. Es gibt zwar digitale Quittungen, aber deren Nutzen zur Klärung der Haftung ist noch unbestimmt. Möglicherweise hilft nur eine Versicherungslösung. Zu den Pflichten der Gematik gehört die Klärung dieser Frage leider nicht.

Lothar Jenne: Alleine schon die Formatierungsregeln des eRezepts werden oder sollen jedenfalls dafür sorgen, dass Retaxationen aus technischen Gründen unwahrscheinlich sind. Darüber hinaus soll der sog. Referenzvalidator dafür sorgen, dass die Softwarehäuser mit seiner Hilfe ihre Software auf die Einhaltung der Formatierungsregeln überprüfen können. Erwarten Sie daher vom eRezept ein rückläufiges Retaxationsaufkommen, also einen Vorteil für Apotheken?

Dr. Kai Christiansen: Langfristig wird der Vorteil gegeben sein und ist zu begrüßen. Kurzfristig allerdings überwiegt der Frust in den Apotheken, weil die Formatierungsregeln eben noch nicht von allen Softwarehäusern und auch nicht stringent umgesetzt worden sind. Damit liegt die Verantwortung doch wieder bei den Apotheken. Der Frust ist auch deswegen besonders groß, weil die Krankenkassen bisher jegliche Friedenspflicht [3] ablehnen, obwohl die Fehler in der Arztpraxis oder in der eingesetzten Software und nicht in der Apotheke zu suchen sind.

(1)Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz

(2)
eGK       = elektronische Gesundheitskarte
eAU     = elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
ePA     = elektronische Patientenakte
eMP     = elektronsicher Medikationsplan
NFD       = Notfalldatensatz auf der eGK

(3) Anmerkung: Nach dem Interview hat der DAV mitgeteilt, dass die Krankenkassen eine Friedenspflicht übergangsweise zur Heilung technischer Fehler zugesichert hätten, z.B. wenn der Name des ausstellenden Arztes nicht mit der Signatur seines Heilberufsausweises übereinstimmen würde.